Katsushika Hokusai und die Große Welle vor Kanagawa

Was für ein hübscher Ort, dieses Kanagawa mit seinen bescheidenen Häusern und Herbergen entlang der großen Ostmeerstraße Tōkaidō. In der Bucht liegen einige Fischerboote vertäut, denn langsam nähert sich der Abend. Wanderer gehen die Häuser entlang, die sich noch nicht entschieden haben, ob sie bereits hier nächtigen sollen, obwohl sie von aufdringlichen Hausmägden dazu aufgefordert werden. Oder bleibt noch genug Zeit, zur nächsten Station weiterzuziehen? (Um zehn Uhr abends wurden alle Tore verschlossen, wer dann keine Bleibe hatte, musste draußen nächtigen).

Utagawa Hiroshige: Kanagawa bei Sonnenuntergang
Quelle: Metropolitan Museum NY (open access)

Utagawa Hiroshige (1797-1858) hat diese friedliche Szenerie in seine berühmte Holzschnittserie Die 53 Stationen der Tōkaidō aufgenommen, die er in den Jahren 1833 und 1834 geschaffen hat.

Ganz anders präsentiert sich Kanagawa im Holzschnitt seines Freundes und Konkurrenten Katsushika Hokusai (1760-1849) in seiner Bildserie 36 Ansichten des Berges Fuji (1826-1833). Nein, hier ist nichts zu sehen von der ruhigen Bucht mit den Fischerbooten, hier droht eine riesige gischtige Woge die drei heimkehrenden Boote zu verschlingen. Ein Drama spielt sich ab, denn viel höher als der von Schnee bedeckte Gipfel des Fuji im Hintergrund bäumt sich das Wasser auf, versprüht funkelnde Tropfen und scheint wie mit Fingern nach den Booten zu greifen.

Werden die Männer, die gegen die Übermacht ankämpfen, heil nach Hause zurückkehren, oder verschlingt sie diese Woge?

Hokusai starb einige Jahre zu früh, um noch mitzuerleben, wie ganz Japan von einer Woge anderer Art erfasst wurde. Am 8. Juli 1853 sichteten Fischer in der Bucht von Uraga vor der damaligen Hauptstadt Edo seltsame Schiffe, von denen zwei von schwarzem Rauch verhüllt waren und sich ohne Segel auf geheimnisvolle Art auch gegen den Wind vorwärts bewegen konnten. Die jungen Vereinigten Staaten präsentierten sich mit diesen „schwarzen“ (Dampf-)schiffen machtvoll, um endlich die selbstgewählte Isolation des Landes aufzuheben und Japan der zivilisierten Welt zuzuführen. Selbstverständlich standen die USA nach eigenem Gefühl an der Spitze dieser auserwählten Nationen, erst danach folgten die europäischen Länder, die noch immer an ihren überholten Monarchien festhielten, und dann erst Japan mit seinen kuriosen Sitten und der Weigerung, Teil einer besseren Welt zu werden. Das entschiedene Auftreten des dafür entsandten Commodore Matthew C. Perry (1794-1858) und die Schiffskanonen, denen die Japaner nichts entgegensetzen konnten, überzeugten. Am 31. März 1854 wurde der erste diplomatische Vertrag Japans mit den USA in Kanagawa unterzeichnet.

Während sich nach 1858 und den Verträgen, die dem Beispiel der der USA folgend auch mit europäischen Staaten abgeschlossen wurden, deren Vertreter in Yokohama niederließen, beharrte Townsend Harris, der diplomatische Vertreter der USA in Japan darauf, in Kanagawa zu bleiben. Für ihn war dieser Ort sakrosankt, da hier der erste Vertrag abgeschlossen worden war, hier hatte Commodore Matthew C. Perry sich endgültig durchgesetzt. Harris mochte diesen Ort mit dem Blick auf den fernen Fuji und hatte sich im Tempel Zenpuku-ji so gut es ging häuslich eingerichtet.

Auf jeden Fall war Kanagawa besser und viel näher an der Hauptstadt als der kleine Ort Shimoda, den Harris gleich nach seiner Ankunft in Japan als bevollmächtigter Generalkonsul der USA am 31. August 1856 als Sitz der allerersten diplomatischen Vertretung des Westens in Anspruch genommen hatte. Sicher war ihm nicht mehr bewußt, dass auf der Izu-Halbinsel, auf der sich Shimoda befindet, auch das Lehen von William Adams gelegen hatte, dem ersten Engländer, der als Schiffbrüchiger 1600 nach Japan gelangt und zum Berater und hohen Samurai (im Rang eines hatamoto) der damaligen Regierung aufgestiegen war.

Tani Buncho: Bucht von Shimoda, (1793)
Topographische Zeichnung aus: Koyo tansho zu im „holländischen Stil“
Quelle: Nationalmuseum Tokyo

Beharrlich versuchten Harris‘ japanische Gesprächspartner, ihm nach seiner Ankunft Shimoda auszureden, da man ihn dort nicht angemessen unterbringen und versorgen könne. Erst kurz zuvor, am 23. Dezember 1854, hatte ein überaus heftiges Erdbeben das Land erschüttert und war überall zu spüren gewesen. Doch noch verheerender war der nachfolgende Tsunami, wobei sich zuerst das Meer von der Küste zurückgezogen hatte und dann mit ungeheurer Wucht über zahlreiche Küstenstädte, auch über Shimoda hereinbrach. Von den etwa 1000 Häusern dort blieben nur 14 von der Zerstörung verschont.

Hokusai hatte dieses Unheil nicht mehr miterlebt und auch nicht die Ereignisse von 1853 und die Ankunft der westlichen Barbaren. Wohl aber sein Konkurrent Hiroshige, der 1858 an der Cholera zugrunde ging, die mit den fremden Schiffen eingeschleppt worden war.

Hokusai besaß keine Scheu vor den Menschen aus dem Westen, im Gegenteil war er neugierig auf sie und auf die zahlreichen kuriosen Dinge, die sie mitbrachten. Er traf die holländischen Kaufleute bei ihren Aufenthalten in Edo häufiger, als die Gesetze erlaubten und der Regierung lieb war. Trotz aller Verbote fand er Wege, sich den Männern mit den langen Nasen und den runden Augen zu nähern, er arbeitete sogar für sie und nahm Aufträge für Bilder an.

Wie malte man im Westen, welche Sicht hatten die westlichen Maler auf die Natur, und war dabei etwas, das er selbst ausprobieren konnte? Ölfarben zum Beispiel, und wie füllten seine westlichen Kollegen den leeren Hintergrund von Bildern aus? Wie malten sie Wolken, wie stellten sie Körper im Raum dar, wie brachten sie Tiefe in ihre Gemälde, und warum legten sie um fertige Werke hölzerne Rahmen? Was bedeuteten Perspektive und Schatten für eine Abbildung?

Er war beileibe nicht der einzige Künstler in Japan, der sich diese Fragen stellte. Nachdem nach 1720 durch die holländischen Kaufleute in Nagasaki mehr westliche Bücher aller Art, meist wissenschaftliche, aber auch Kunstbücher, ins Land kamen, sprach sich das bei den japanischen Malern und Holzschnittkünstlern herum. Ein großes zweibändiges Kunstbuch von Gérard de Lairesse (1640/41-1711) mit dem Titel Het groot schilderboek von 1707 mit seinen vielen Abbildungen entpuppte sich als großartige Vorlage, ebenso fünf Ölgemälde, die 1724 als Geschenk für den Shōgun präsentiert wurden.

Begeistert und überwältigt von der realistischen Darstellung lehnten einige japanische Künstler daraufhin ihre eigenen Traditionen als „minderwertig“ ab. „Nur im holländischen (d.h. westlichen) Stil kann man Dinge akkurat abbilden“, war der Maler und Arzt Shiba Kōkan (1738-1818) überzeugt, nachdem er das Lehrbuch von de Lairesse durch den Opperhoofd (das Oberhaupt) der Holländer auf Deshima Isaak Titsingh (in Japan 1770-1784) kennengelernt hatte. Auch an das ebenfalls importierte Wörterbuch der Künste und der Wissenschaften von Egbert Buys hielt er sich, aus dem er den Kupferdruck erlernte. Und inzwischen gab es auch westliche Vorlagen, durch die Venedig, die Pyramiden und der Koloss von Rhodos bekannt geworden waren.

Bei Shiba Kōkan wie auch bei Hokusai sind deutliche Anleihen aus dem Lehrbuch von de Lairesse zu erkennen. 1805/06 schuf Hokusai bereits im westlichen Stil Drei Boote auf dem Weg von Edo zur Bōsō-Halbinsel. In seine Manga-Hefte (begonnen 1814/1815), ebenfalls eine Anleitung für angehende Maler, nimmt er Abbildungen von unterschiedlichen Wellenformen auf, und gleichzeitig entstehen perspektivische Ansichten berühmter Orte in Japan mit Wolkenformationen im westlichen Stil. Dazu gehören auch gemalte Holzrahmen, die er manchmal mit westlichen Buchstaben schmückt, die nur wenige Japaner kannten.

Katsushika Hokusai: Drei Boote auf dem Weg von Edo zur Boso-Halbinsel,
1805/1806 im holländischen Stil mit gezeichnetem Rahmen
Quelle: Nationalmuseum Tokyo

Aber die Große Welle vor Kanagawa wäre nie zu einer Ikone japanischer Kunst geworden, hätte sich Hokusai strikt an die Vorschriften westlicher Kunst gehalten. Mit 70 Jahren, als er die Welle malte, spielte er mit dem, was er von ihr gelernt hatte, benutzte einige ihrer Gesetze und blieb doch ganz der japanischen Ästhetik verhaftet. Mit souveräner Kühnheit vertauscht er die Größenverhältnisse, setzt den heiligen Berg Fuji mit über 3700 m Höhe winzig klein in die Mitte des Bildes und baut dafür die Welle auf der linken Seite zu beeindruckender Höhe auf.

Heute zählt die Große Welle zu den wichtigsten Gemälden der Welt, ist in allen Kulturen beheimatet und in unzähligen Abwandlungen gleichermaßen präsent.

Für das Jahr 2025 plant die japanische Regierung eine Neuausgabe der einheimischen Geldscheine, und der neue 1000-Yen-Schein wird die Große Welle auf der Rückseite tragen, als Verneigung vor dem großen Künstler und seinem Genie.

Und Gérard de Lairesse? Nachdem er so viele angehende Künstler im Westen wie auch im Osten beeinflußt hatte, galten er und der „Zopfstil“ Anfang des 19. Jahrhunderts als völlig überholt. Als der bayerische König Ludwig I. 1847 Wilhelm von Kaulbach damit beauftragte, die Fassade der Alten Pinakothek in München mit Fresken zu schmücken, die ihn als Kunstmäzen preisen sollten, ist auf einem dieser Bilder der alte de Lairesse abgebildet, der vom Musenross, dem geflügelten Pegasus, rücksichtslos über den Haufen geritten wird. Er und sein akademischer Malstil waren hoffnungslos aus der Mode, und niemand erinnerte sich daran, dass er einmal nicht nur westliche Maladepten, sondern auch japanische Holzschnittkünstler beeindruckt hatte.